laut.de-Kritik
Das erste wahre Rockalbum des neuen Jahrtausends.
Review von Josef GasteigerDer Blick ins Rock-Geschichtsbuch lehrt uns im Jahr 2000 von düsteren Machenschaften. Die Adidas-Nu Metal-Gangs ziehen plündernd mit Plattendreher im Gefolge durch die Ländereien und geben Generationen von Leichtgläubigen anspruchslose Kost und so manch seichten Reim mit harten Gitarren.
Da blitzt aus dem texanischen El Paso, einer höchstens für B-Movie-Western bekannten Stadt, eine Kapelle aus dem Untergrund hervor, die den schlimmsten Posen seit Glamrock den Riegel vorschiebt. At The Drive-In liefern auf drei Alben und zwei EPs eine logische Entwicklung und Soundprogression ab, die in nichts anderem kulminiert wie einem der wegweisendsten Rock-Alben des noch so frischen Jahrtausends.
"Relationship Of Command" ist wütende und grundauf ehrliche Rockmusik. An den Punk- und Hardcore-Pfeilern der letzten Epochen abgeklopfter Radau, der ein Energielevel an den Tag legt, das mitreißt, kräftig umrührt und dann wieder ausspuckt.
Schon die ersten Sekunden rütteln ordentlich an einer gewissen Einlullung, mit der sich die neue Musikepoche des Rockkonservatismus auseinander zu setzen hatte.
"Arcarsenal" rasselt im Intro ordentlich mit den Messern, lässt den Bass im Kreis laufen und die Gitarren kreischen, bevor ein Stakkato-Gewitter die ersten Akzente abfeuert und sich die Band auf einen treibenden Kopfnicker-Groove einigt, noch bevor Sänger Cedric Bixler das Mikrofon ergreift. Kein Zweifel, dass diese Band jeden Ton mit tonnenschwerer Überzeugung angeht.
Der Versuch, irrwitzige Energie auf das doch behäbige Medium CD zu pressen, gestaltete sich freilich nicht einfach. Euphorisch heimgekehrt von einer Tour mit Rage Against The Machine gingen At The Drive-In mit Nu Metal-Judas Ross Robinson ins Studio, um den Hammer ordentlich kreisen zu lassen. Gemeinsam entstand in sieben Wochen ein Referenzwerk in Sachen Post-Hardcore, das erhobenen Hauptes und ohne Scheu genau das richtige Mischverhältnis zwischen Hooks und Krachexplosion vor sich her trägt.
Mischer Andy Wallace schraubte das Werk, fair gegenüber allen Beteiligten, zu seinem zweiten "Nevermind", wodurch einige Songs sogar den Weg in die Funkwellen fanden. "One Armed Scissor" und "Pattern Against User" sind treibende gemeinsame Nenner, die der Band rasch zu Aufmerksamkeit verhalfen: Genügend ausgeklügelte Arrangements, um sich von Haudrauf-Punk abzugrenzen, mit Melodiechen garnierte Gitarrenverrücktheiten, die nach spätestens drei Durchgängen als unverrückbarer Teil des At The Drive-In Sounds immer wieder kehren wie Deja-Vus.
Sänger Bixler intoniert pausenlos hart an der Grenze. Ob tobend mit Kickstart in bittere Tiraden über die Taubheit der Gesellschaft ("Sleepwalk Capsules") oder traurig anklagend und beobachtend ("Invalid Litter Dept."), sein Organ hat nicht selten die Funktion einer Alarmsirene, die das Adrenalin sofort in die Blutbahnen lenkt.
So oft er auch als "singender Zack de la Rocha" bezeichnet wurde, die Ähnlichkeit der Stimmfarbe ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, gerade weil sich Cedrics stimmliche Gift und Galle hervorragend den komplexen Themen fügt.
Seine Schreiattacken betören mit Sprachniveau und Wortschatz weit jenseits eines erwartbaren Rock-Wordings. Viele mussten seinerzeit erst mal zum Wörterbuch greifen, um zu verstehen, warum der Typ mit der Krähenfrisur eigentlich so wütend war, was die Faszination des At The Drive-In-Sounds nur noch verstärkte. So laut und doch so clever? Hardcore will never die.
Ausgepowert von einem scheinbar nie endenden Strom an Grooves, Mitsing-Refrains und hereinbrechenden Wellen von Emotion erlaubt man sich zur Albumhälfte als kurze Atempause 30 Sekunden Feedbacklärm. Oder wollten sie nur dem Punkopa Iggy Pop Zeit zum Verschnaufen geben? Über die verzahnten Gitarren von "Rolodex Propaganda" darf dieser nämlich mit Cedric mithalten, das Verrücktheitslevel schien den Alten beeindruckt zu haben. Auch in diesem Fall war es nämlich ein kosmischer Zufall, dass sich Iggy an jenem Aufnahmetag mit Robinson über sein zukünftiges Album unterhalten wollte und dieser ihn kurzerhand in die Gesangskabine der Drive-In-Jungs schickte.
Der Mut zur Langsamkeit sei ihnen auch noch gewährt, wenn "Quarantined" um die Ecke kommt. Niederwalzend brauen sich die Gitarrenwände von Jim Ward und Omar Rodriguez zu einem ordentlichen Orkan zusammen. Bildgewaltig entfaltet sich vor dem geistigen Auge das nächste düstere Bild, das die Texaner nie gelungener heraufbeschwörten. Alleingelassen im Regensturm, tropfnass und trotzdem mit Verbissenheit gesinnt, jeden Weg zu gehen.
Die Geister der Hardcore-Bewegung kommen hier stark durch, vereinen so manchen Einzelgänger durch die Kraft der Musik, lyrisch wie instrumental. Thematisch drehen sich Bixlers Wutausbrüche oft um das Entfremdete, Einzelne, Nicht-Menschliche. Der "Cosmonaut" fordert lautstark "Come On", erspart sich durch Weltraumschwere aber auch das ein oder andere Break.
Songs wie dieser zwingen jeden Muskel zur Elektronenausschüttung, sie stehen aber im krassen Widerspruch zur Bandphilosophie, die Crowdsurfen und Pogo aufs strengste verurteilte. Geschuldet natürlich dem Fakt, dass dieses Album sie locker aus dem Mainstream ausbrechen ließ, die Hallen aber nach wie vor nur in Geheimtipp-Größe die Türen öffneten. Die monströse Energie blieb damals eben nur wenigen Glücklichen vorbehalten.
Trost und Anschauungsmaterial über das Livegewand von At The Drive-In findet man auf Videoportalen zuhauf. Herausstechend sicher die Auftritte in den Late Night-Shows des amerikanischen und englischen Fernsehens, die mit mehreren Kameras in perfekt ausgeleuchteten Soundstages fast schon tragikomisch die Reaktion der Band auf übermäßige Kommerzialisierung festhielten.
Ungestümer wären die Auftritte nur geraten, hätte die Band im Anschluss das Studio fachmännisch zerlegt. Aber auch sonst ist die Performance von "One Armed Scissor" in der britischen Show "Later ..." bestes Beispiel für alles, was At The Drive-In ausmacht.
Nach gezählten 4 Minuten und 30 Sekunden fliegt die Gitarre in die umstehende Menge von ca. 13 Kabelträgern und Schminkassistentinnen, nachdem Gitarrist Omar vor lauter manischer Umhertollerei bis zu diesem Zeitpunkt kaum ein gerader Ton gelang, die Axt gleichzeitig verstimmt wie ein Straight Edger im Angesicht eines biergetränkten Schweinebratens. Der Vergleich hinkt wie Omar nach einem 20 Meter-Stagedive, doch was die Band in den Fernsehstudios anstellte, spottet jedem Versuch, diese Power in Worte zu fassen.
"Cocaine's one hell of a drug" mutmaßte ein Userkommentar. Sicher ist: Musik war für die später durch alle möglichen Bandkonstellationen wandernden Cedric Bixler und Omar Rodriguez Lopez stets eine Droge. At The Drive-In, das waren ein Haufen Typen, die jede Note und jeden Akkord mit ihren Körpern auf der Bühne rücksichtslos auslebten. "Feeding frenzy, it's contagious" erklärt "Non-Zero Possibility" selbst die Wirkung ihrer Musik.
Definiert wurde die Größe und Brillianz von "Relationship Of Command" natürlich auch durch die Nachfolgewerke. Wo The Mars Volta leicht elitären Zügen verfielen und bewusst an die Grenzen des Zumutbaren gingen, während Sparta den gewissen Hauch des Besonderen nie aufrecht halten konnten, waren At The Drive-In im Jahr 2000 genau die richtige Schnittmenge aus post-apokalyptischer Atmosphäre, Standhaftigkeit und instrumentaler Progression.
Ein Detail am Rande des Wahnsinns: Rodriguez Lopez hält den Mix des Albums für zu weich und kann sich "Relationship Of Command" bis heute nicht anhören. Da im Frühjahr 2012 aber die ersten Reunion-Shows über die Bühne gehen, diskutiert die Welt bereits über einen Nachfolger. Die Kapazitäten meiner Großhirnrinde reichen jedoch nicht aus, ein noch brutaleres und krachenderes "Relationship Of Command" zu imaginieren.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.